Herz-Ass Villgratental - Die Geschichte
von Heinrich Hofmann
Vom 24. bis 29. Dezember 1988 gelang den Bergkameraden Norbert Mariacher und Konrad Hofmann die Erstbegehung und auch Wintererstbegehung der Umrundung der Villgrater Berge von der Tessenberger Alm bis zum Thurntaler - Herz-Ass Villgraten.
Die Geschichte, wie es anfing: Mein Freund Alois Mayr und ich, als quasi Bodenpersonal und Beobachter im Tal, verfolgten den Weg der beiden auf winterlichen Höhen. Von oben bestand keinerlei technische Verbindung ins Tal, wohl aber eine geistige von unten und umgekehrt. Es hat viel Überredungskunst und einiger Vorstellungen bedurft, um die Genehmigung zu erhalten, diese abenteuerliche Bergfahrt in einer anschaulichen Dokumentation schildern zu dürfen. Gerade deswegen soll die Möglichkeit und Machbarkeit dieses Weges anderen Bergkameraden nicht vorenthalten bleiben und mit besten Wünschen für Wiederholungen einem breiteren Kreis von Bergsteigern vorgestellt sein. Ein harmloser Bergwanderer schildert hier nun eine aufregende Bergfahrt zweier Kameraden aus der Sicht des "Bodenpersonals", untersützt durch kleine Details, die sie sich spärlich entlocken ließen.
Lois bringt Norbert und Konrad mit seinem Auto am 24.12.1988 nach Astrane, unterhalb der Tessenberger Almrast. Viel Glück auf dem Weg! Das Auto wendet, die Lichter der Scheinwerfer richten sich talwärts und verschwinden in der Nacht. Es ist 1.00 Uhr früh - ein langer, langer Weg liegt vor ihnen: In der Luftlinie sind es gut 50 km, die Geländelinie geschätzt auf etwa 100 km und die Höhendifferenz betrögt im Aufstieg allein etwa 5.500 m. Schweres Gepäck drückt auf die Schultern - je ca. 25 kg. Geplante fünf bis sieben Tage auf einer Höhe von 2.200 bis 3.000 m am eisigen Grat und davon nur eine Biwaknacht weniger als es Tage werden mögen. Nicht weniger als mindestens 50 namhafte Gipfel auf dieser langen Rundtour und vielleicht ein Vielfaches an ungenannten Spitzen, Storfen und Höhen liegen auf ihrem Weg.
Am Nachmittag des Heiligen Abends hat Lois am Vesellerberg unterhalb Hühnerspiel Stellung bezogen und sucht mit dem Fernrohr den Grad ab. Am Hohen Schartl macht er sie schließlich aus - ein beachtlicher Weg, der schon hinter ihnen liegt. Wir rechnen, dass sie am nächsten Tag bis weit nach Regenstein vordringen können. Wie mögen sie Weihnachten am Berg begehen? Die besten Grüße und weihnachtliche Wünsche werden vom Tal zu winterlichen Höhen gedacht! Knapp nach Mittag des nächsten Tages ist Lois bereits wieder bei der Gliefenalm auf Posten, wo er gute Sicht auf den Grat hat. Nach langem, vergeblichem Suchen entdeckt er sie am Großen Arnhorn, wo sie auf einem Schneeband Rast halten. Am späten Nachmittag suchen wir gemeinsam von der Uichat am Thuntaler nach einer Bewegung am Berg in Richtung Regenstein. Ohne Ergebnis müssen wir nach Hause zurückkehren - wir ahnen, dass es droben nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten geht.
Früh schon am nächsten Tag bin ich unterwegs und versuche, kurz von der Mooshofalm die Kameraden am Berg zu entdecken. Ich kann den Grat, beginnend bei den Arnhörnern, bis zur Marcheggenspitze einsehen. Ich versuche es einmal, zweimal, viele Male, doch immer vergebens. Nun muss ich zur Hl. Messe nach Kalkstein und will nachher nochmals Ausschau halten. Um 11.45 Uhr bin ich wieder da und richte das Fernrohr nach oben auf den weiß glänzenden Grat. Ich sehe zwei Gestalten am Schartl unterhalb der Marcheggenspitze, die zügig aufwärts steigen und bald meinen Blicken entwunden sind. Als ich am Nachmittag mit Lois zusammentreffe, kann ich im freudig von der Beobachtung berichten. Wir fahren dann, soweit es geht, ins Winkeltal und wandern taleinwärts. Etwas oberhalb der Lackenkammern erspäht Lois dann unsere Kameraden am Berg. Sie haben die Hochwand erreicht und steigen abwärts zum Gsaritzer Törl. Befriedigt kehren wir heim. Ab nun wird Lois allein die Beobachtung vom Tal aus übernehmen. Von dieser Seite aus gesehen ist für ihn nun die schwierigste Zeit gekommen, da er den Grat bis zum Degenhorn nicht einsehen kann. Wir hoffen aber, dass sie morgen dieses Ziel erreichen können. Bereits um 2.00 Uhr am Nachmittag des nächsten Tages haben sie die Storfenspitze erreicht und kämpfen sich über den Grat westwärts, wie Lois vom Waschstein aus beobachten kann. Beim Zudunkeln des gleichen Tages sind sie in der Schötterlenke und müssen nun wohl das nächste eisige Biwak beziehen. Donnerstag, der 28.12.1988, halb zehn - vom Schachlerhof sieht man zwei Menschen in Richtung Villgrater Törl emporsteigen. Dann können wir sie nirgendwo mehr entdecken, obwohl Lois noch lange unterwegs ist; um 7 Uhr abends besprechen wir uns. Wir können nur hoffen, dass alles gut gegangen ist und sie weitergekommen sind.
Abends betrachte ich den u n e n d l i c h e n Weg auf der Landkarte und stelle mir die Möglichkeiten vor. Plötzlich kann ich das Ganze des Weges sehen und der Name Herz-Ass Villgraten ist im Gedanken geboren. Dieser Name drängt sich auf beim Anblick dieses herzförmigen Grates, der über unzählige Berge eine einmalige Talschaft umschließt. Noch spät am Abend schreibe ich zu Hause voll Vertrauen die Stationen der Kameraden am Berg für diesen Tag auf: Rote Spitze, Wangeslenke, Gschritt, Plattetörl, Villgrater Törl, Pfannspitze, Hellöden, Vorder- und Hintere Gsieser Lenke, Riepenspitze, Heimwald, Heimwaldjöchl, Rotlahner, Eggenberger Riegel, Kalksteiner Riegel - meine Entfernungsmessungen auf der Karte sagen mir zwar, dass es nach menschlichem Ermessen nicht möglich ist, dass sie soweit gekommen sind, trotzdem gehorche ich getrost einer inneren Stimme. Auch wenn alles stimmt, was ich mir so phantasievoll an diesem 28. Dezember des letzten Jahres zusammengereimt habe, müsste eine Gewaltleistung greifen, wollten sie am nächsten Tag ihr Ziel erreichen. Schon früh am nächsten Tag darf ich mich darüber freuen, meine kühnsten Erwartungen übertroffen zu sehen. Um 17.29 Uhr schon berichtet Lois, dass sie die Kerlsspitze erreicht haben und es aller Voraussicht nach schaffen dürften.
Und nun überschlagen sich die Ereignisse - ich komme fast mit meinen Aufzeichnungen in Verzug . Mittlerweile hat sich auch Hans dem "Bodenpersonal" zugesellt und lebt voll mit, mit den Kameraden unten und den Kameraden oben! Um 11.00 Uhr klingelt das Telefon. Lois berichtet vom Standpunkt am Hochberg, dass Norbert und Konrad das Pfannhorn erreicht und anscheinend Bier auf der Thurntaler Rast gewittert haben. Da nimmt die Schnelligkeit zu-, anstatt ab. Wir rechnen mit ihrem Eintreffen auf der Thurntaler Rast nach Einbruch der Dunkelheit. Um 2.45 Uhr ist Lois wieder am Apparat und teilt mit, dass er die beiden zwischen Hochrast und Thurntaler gesehen hat und dass ihnen die Erreichung des Zieles jetzt nicht mehr zu verwehren sein wird. Wir haben einen kameradschaftlichen Empfang bei der Thuntaler Rast geplant und müssen uns beeilen. Schnell noch stelle ich die Kurzdokumentation fertig und werde dann von Lois um 3.30 Uhr Nachmittags abgeholt. Mit einem Empfangstrunk versehen, starten wir zum Thuntaler. Noch im Auto muss Lois die Aufzeichnung der Beobachter im Tal unterschreiben und dann wollen wir sie in der Thurntaler Rast erwarten. Da sitzen sie in aller Seelenruhe hinter einem Bier und heißen uns willkommen. Äußerlich merkt man wenig von den ungewöhnlichen Strapazen, die hinter ihnen liegen - nur die Augen leuchten in einem auffallenden Feuer, schweigend, vielsagend, erzählend von sonnigen Höhen, unendlichen Weiten und erlebten Wundern.
Für mich sprechen sie Bände, wenn ihren Kommentaren auch nicht viel zu entlocken ist. Doch soviel kann ich berichten: Es ist nicht selbstverständlich, dass sie heute hier gesund sitzen dürfen, dass es viele schwierige Situationen gab, dass das Gelingen eines solchen Vorhabens vom jeweiligen Partner abhängt, dem man sein Leben anvertraut, dass sie sich in jeder Hinsicht ergänzt haben, dass Kameradschaft am Berg auch die Akzeptanz von Schwächen und Fehlern des Partners beinhaltet, dass die menschlich Seite immer noch am besten Schwierigkeiten meistern hilft und dass der Herrgott mit schützender Hand ihren Weg begleitet hat. Das Miterleben dürfen und "dabei sein auf Distanz" bei dieser Langtour Herz-Ass Villgraten hat mich bewogen, diese Geschichte nieder zuschreiben und auch anderen zugänglich zu machen.
Die Villgater Berge sind keine Weltberge und doch kann man auch hier Expeditionen machen. Wir freuen uns auf weitere Begehungen dieser Rundtour rund um unser Heimattal und werden gerne, so es gewünscht wird, als Beobachter im Tal auch mit anderen mitleben und mit kämpfen.